Zum Weltschifffahrtstag
Viele Konsumartikel unseres tagtäglichen Lebens legen mehrere tausend Kilometer zurück, bevor wir sie Zuhause, in der Freizeit, im Büro oder anderswo nutzen können. Ein Großteil gelangt dabei nicht etwa mit dem Zug oder per Flugzeug zu uns, sondern wird auf Containerschiffen um den halben Globus geschickt. Bis zu 80% des europäischen Außenhandels wird über den maritimen Transportsektor abgewickelt und zeigt so, welche wesentliche Rolle die Schifffahrt in unserem Alltag einnimmt. Die enorme Bedeutung der Schifffahrt ist vielen von uns nicht mehr bewusst, da wir kaum noch mit ihr in Berührung kommen (1). Nur in Ausnahmefällen lichtet sich der Nebel um die stählernen Ozeanriesen und sie rücken für kurze Zeit in den Fokus der Berichterstattungen. Im vergangenen März war das mediale Echo besonders groß, als die „Ever Given“ den Suez Kanal – eines der wichtigsten Nadelöhre zwischen Asien und Europa – für mehrere Tage blockierte. Auch die jetzige Knappheit einiger Waren und Rohstoffe macht unsere Abhängigkeit von außereuropäischer Märkte und somit auch von der Schifffahrt mehr als deutlich. Daher nehmen wir den Weltschifffahrtstag zum Anlass einen genaueren Blick auf eine der wichtigsten Industrie des globalisierten Welthandels zu werfen.
Durch die Verbreitung des Containers als international einheitliche Transporteinheit seit den 1960er Jahren hat sich die Struktur der Schifffahrt maßgeblich verändert. Seitdem werden die Waren direkt in 20 bzw. 40 Fuß großen Stahlboxen verstaut. Sie ermöglichen einen reibungslosen und geschlossenen Transport vom Hersteller bis zu ihrem Bestimmungsort. Die Beliebtheit des Containers als Transporteinheit liegt insbesondere in der drastischen Kostensenkung der Verladung in Häfen. Zudem konnte so die Zeit der Ent- und Beladung von mehreren Wochen auf nur wenige Stunden reduziert werden. Ohne die Schifffahrt und ihre Container wären die moderne Globalisierung und die internationale Arbeitsteilung nicht denkbar.
Dementsprechend wurden auch die Containerschiffe selbst im Verlauf der letzten 50 Jahre immer größer, wie die folgende Grafik verdeutlicht:
So kann es heute günstiger sein, Nordseekrabben zum „Pulen“ nach Nordafrika zu verschicken, um dort die günstigeren Personalkosten auszunutzen, bevor sie zurück in Deutschland in den Ladentheken landen. Was natürlich zusätzliche CO2-Emmissionen bedeutet.
Gleichzeitig erschweren geschlossene Transportketten sowie das stetig wachsende Containeraufkommen Kontrollen und machen eine flächendeckende Überwachung von Ein- und Ausfuhr nahezu unmöglich. So gelangen immer wieder ausrangierte Elektrogeräte – verdeckt durch eine Reihe als „Entwicklungshilfe“ deklarierte brauchbarer Geräte – an die ghanaische Küste (2). Die Region rund um die ghanaische Hauptstadt Accra hat sich durch importierten Elektroschrott aus dem Globalen Norden in den letzten Jahren zu einer unwirklichen Müllhalde verwandelt. Unter prekärsten Verhältnissen werden Computer und Co. durch die ansässige Bevölkerung auseinandergenommen, indem sie die Plastikgehäuse und Isolierungen verbrennen, um so an die kostbaren Edelmetall-Komponenten zu kommen, wie auf dem folgenden Foto zu sehen ist. Bildgewaltige Einblicke hierin bietet auch der Film „Welcome to Sodom“ aus dem Jahr 2018.
Mit der Zunahme globaler Warenströme im 20. Jahrhundert stieg auch der Konkurrenzdruck innerhalb der Schifffahrt. Verschiedene Krisen in den 1970/80er sowie in den 2010er Jahren verstärkten dieses Phänomen weiter. Um das eigene Unternehmen weiterhin wettbewerbsfähig zu halten, mussten neue Strategien entwickelt werden. Eine der wichtigsten Strategien hierbei ist die Ausflaggung der eigenen Flotte in nicht-europäische Drittstaaten. Mit der Ausflaggung lösen sich die Reedereien von ihren Heimatländern und können mithilfe sog. „Flag of Convenience“ (FOC) steuerrechtliche Bestimmungen sowie tarifliche Abkommen umgehen. Es wird angenommen, dass über 70% der weltweiten Handelsflotte unter einer FOC fährt. Eine Folge dessen ist die stetig wachsende Intransparenz der Industrie: Gebaut in China, im Besitz eines internationalen Fonds, vermietet an eine dänische Logistikfirma, am Heck weht die liberische Fahne und die multinationale Mannschaft wird durch Agenturen in den Herkunftsländern angeheuert und angestellt. Diese Bedingungen können eine klare Zuordnung von Zuständigkeiten erschweren. In Ausnahmefällen führt es dazu, dass Schiffe und ihre Crew ohne Bezahlung über mehrere Monate oder sogar Jahre hinweg aufgegeben werden, da die Verantwortlichen aus dem Wust der weltweiten Verzweigungen nicht zu ermitteln sind (3). Durch die Corona-Pandemie und der daraus folgenden Krise Anfang 2020 hat sich dieses Phänomen kurzzeitig verstärkt. Internationale Organisationen, wie die International Labour Organization (ILO) fordern daher immer wieder, dass Seefahrende für die Dauer der Aufgabe ihres Schiffes eine Lohnfortzahlung erhalten und die Kosten für eine Heimreise übernommen werden. Die ILO – eine Sonderorganisation der UN – verhandelt vergleichbar mit einer Gewerkschaft die Rechte und Pflichten von ArbeitnehmerInnen und ArbeitgeberInnen. So wurden im Laufe der Jahre u.a. Standards für die maximale Anzahl von Arbeitsstunden, eine gerechte Entlohnung sowie die Arbeits- und Lebensbedingungen der Seeleute festgelegt.
Trotzdem ist das Leben von Seefahrenden wenig vergleichbar mit den fabelhaften Geschichten aus Romanen und Liedern (4). Dies fängt bereits bei dem Aufbau der Schiffe an. Ihre Hauptaufgabe besteht darin so viele Waren wie möglich von A nach B zu transportieren und legt weniger Fokus auf den Komfort der Unterkünfte. Der Raum an Bord ist begrenzt und insbesondere durch ständige Bewegungen durch das Meer sowie durch die 24/7 laufenden Maschinen geprägt. In ihrer Freizeit können Seefahrende nicht ins Kino gehen oder sich in einen Park setzen. Stattdessen verbringen sie ihre Freizeit mit den gleichen Menschen, mit denen sie auch arbeiten. Dafür gibt es auf einigen Schiffen neben einem kleinen Aufenthaltsraum, welcher u.a. mit Fernseher, Dartscheibe o.ä. ausgestattet ist, in Ausnahmefällen auch Fitnessräume oder sogar Swimming-Pools. Zum Teil werden bei längeren Überfahrten in warme Regionen Grillabende veranstaltet. Diese zusätzlich angebotenen Aktivitäten hängen jedoch besonders von den KapitänInnen ab und können von der Schiffsführung entweder als willkommene Abwechslung oder Störung des Schiffsalltages gesehen werden.
Vereinzelt gibt es an Bord bereits Internetzugang. Dadurch bekommen Seeleute die Chance regelmäßig mit ihren Familien und Freunden an Land in Kontakt zu bleiben. Bei einer durchschnittlichen Aufenthaltsdauer von 10-12 Monaten in den unteren Rängen – unterhalb von OffizierInnen und IngenieurInnen – sind Gespräche mit den Geliebten Zuhause die einzige Möglichkeit mit der Welt außerhalb der Schifffahrt zu kommunizieren.
Der Beruf auf See kann den Menschen sehr viel Kraft abringen. Der hohe Salzgehalt wirkt immerzu auf den stählernen Schiffskörper ein. Ein Großteil der Arbeit außerhalb von Küstengewässern und Häfen konzentriert sich daher auf den Erhalt der Fahrtüchtigkeit sowie der Eindämmung der Schäden auf den stählernen Schiffskörper. Wurde ein Teil des Schiffes vom Rost befreit und neu angestrichen, wartet schon das nächste Deck auf einen Neuanstrich. Die Liste von Aufgaben scheint daher endlos zu sein und fordert häufig die volle Aufmerksamkeit der gesamten Mannschaft. Zusätzlich ist das Schiff auf hoher See der einzige Schutz vor Wasser, Wind und Wetter. Geregelte Arbeitszeiten sind daher fast unmöglich und der Feierabend wird oft verschoben. Gleichzeitig wird durch Kosteneinsparungen oder durch Digitalisierungsbestrebungen die Anzahl von Seeleuten an Bord immer weiter reduziert. Trotz international anerkannter Richtlinien zu Arbeits- und Ruhezeiten (z.B. durch die ILO), können Seefahrende mehrere hundert Überstunden pro Monat ansammeln. Die Einhaltung von Ruhezeiten ist besonders wichtig, wenn man bedenkt, dass bis zu 2/3 aller Havarien weltweit auf menschliches Versagen zurückzuführen sind. Neben der Gefährdung von Menschenleben können bei einer Kollision die Schweröl- bzw. Dieselvorräte ins Meer gelangen und somit die unmittelbare Umwelt schwer schädigen. Eine der größten Umweltkatastrophen der Seefahrt soll durch die Unaufmerksamkeit des wachführenden Offiziers der „Exxon Valdez“ in 1989 verursacht worden sein (5). Zum Zeitpunkt des Unfalls soll dieser bereits 18 Stunden wach gewesen sein.
Die klimaschädlichen Einflüsse des Seehandels sind nicht von der Hand zu weisen. Neusten Berichten der Europäischen Umweltagentur (EUA) zufolge, ist die Schifffahrt nach dem Flug- (14,4%) und Straßenverkehr (71%) für 13,7% der Treibhausgasemissionen im europäischen Verkehrssektor verantwortlich (6). Darüber hinaus fördert die Schifffahrt durch die Be- und Entladung seiner Ballastwassertanks die Ausbreitung invasiver Arten. Mit der Verwendung von Anti-Fouling Farbe zur Eindämmung des Bewuchses von Organismen an der Schiffswand, gelangen permanent naturgefährdende Stoffe, z.B. Biozide, in die Umwelt. Die Verdopplung von Lärmemissionen, Müllverschmutzungen etc. sind einige weitere Probleme der Seeschifffahrt – und diese Liste ließe sich beliebig weiterführen (7).
Seit wenigen Jahren werden jedoch immer wieder neue Lösungsansätze vorgestellt. So werden zum einen erste Fähren mit LNG (flüssigem Erdgas) betankt. Zum anderen werden bereits seit langer Zeit bekannte alte Technologien, wie bspw. der Flattner Rotor, als alternative Antriebskraft 100 Jahre nach ihrer Erfindung in Schiffe eingebaut. Aber auch die altbewährten Segelschiffe erleben eine kleine Renaissance abseits ihrer Nutzung in Regatten und bei SegelliebhaberInnen. Mit Frachtsegelschiffen können insbesondere lang haltbare und fair produzierte Produkte, wie Weine, Spirituosen oder Kaffee klimafreundlich transportiert werden (8).
Eine weitreichende Lösung stellt der Transport per Segelschiff für die große Nachfrage noch nicht dar. Es bleibt also noch viel zu tun, bevor unsere Transportketten sicher, sozialverträglich sowie klima- und umweltschonend funktionieren können. Ein erster Schritt dorthin besteht darin, sich der Wichtigkeit der Schifffahrt für unser alltägliches Leben bewusst zu werden und sich mit der europäischen und internationalen Schifffahrtspolitik auseinander zu setzten.
Autorin: Luise Menzel
Das Nordlicht hat schon von Kindesbeinen an durch ihren Vater, welcher als Kapitän auf Handelsschiffen tätig war, das Leben auf See kennengelernt. Nach ihrem Abitur hat Luise ein paar Wochen auf einem Großsegler verbracht und als Leichtmatrosin einer 60-köpfigen Mannschaft Masten erklimmt, Shantys gesungen und das Steuer übernommen. Im Zuge ihrer Bachelorarbeit hat sie sich entschieden wieder auf das Meer zurückzukehren und sich das Leben von Seefahrenden genauer anzuschauen. Zwei Monate fuhr sie dafür als einzige Frau an Bord von Hamburg über den Panamakanal nach Ecuador und zurück. Beim Rostklopfen, gemeinsamen Hafenwachen und Karaoke-Abenden wurde sie in kürzester Zeit ein essentielles Mitglied der Crew und konnte mithilfe von persönlichen Interviews viele Erkenntnisse sowie Freundschaften gewinnen.
Quellen und weiterführende Links:
(2) „Gefährlicher Elektroschrott“ (2020)
(3) „Stranded sailor allowed to leave abandoned ship after four years“ (2021)
(4) „Protokoll eines Seefahrenden“ (2018)
(6) „Schiffsverkehr treibt Erderwärmung voran“ (2021)
(7) Umweltbundesamt (2020): „Seeschiffahrt“
(8) Beispiele für Frachtsegelschiff-Reedereien bzw. -Anbieter:
Mehr zu den Themen „Schifffahrt“ und „Leben auf See“:
Gerstenberger, Heide & Ulrich Welke (2004): Arbeit auf See. Zur Ökonomie und Ethnologie der Globalisierung. Münster, Westfälisches Dampfboot
George, Rose (2013): Ninety Percent of Everything. Inside Shipping, the invisible industry that puts clothes on your back, gas in your car, and food on your plate. Picador.
Einen kurzen Überblick über die Schifffahrt gibt es auch bei ZDF Terra X